Berliner Debatte Initial
Gerd Grözinger, Utz-Peter Reich (Hg.): Entfremdung – Ausbeutung – Revolte
4 Seiten | Autor: Günter Krause
Ob „Grüß Gott! Da bin ich wieder!“, „Marx reloaded“, „Der Wiedergänger. Die vier Leben des Karl Marx“, „Marx. Ein toter Hund?“, „Marx an den Rändern“ oder „Warum Marx recht hat“, ob Comic, Lesebuch, Biographie oder „Kapital“-Lesekurse an Universitäten – es ist ein bemerkenswert konstanter Trend. Seit mehr als fünf Jahren ist das Wirken des „drittgrößten Deutschen“ national wie international Gegenstand eines lebhaften Diskurses. Marx’ Oeuvre bleibt jenseits des Untergangs des Staatssozialismus eine „intellektuelle Potenz“. Bereits vor Jahrzehnten hatte Mark Blaug die Marxsche Wirtschaftstheorie als „grandiosen Entwurf“ charakterisiert, „der in der Geschichte der Ökonomie nicht seinesgleichen hat“ und dabei festgestellt, dass die darin enthaltenen Gedanken „zu einem wesentlichen Teil der Vorstellungswelt geworden sind, in der wir uns heute bewegen, ob wir Marxisten sind oder nicht“.
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Lothar Fritze: Anatomie des totalitären Denkens.
6 Seiten | Autor: Guntolf Herzberg
Ein Vergleich zwischen kommunistischer und nationalsozialistischer Weltanschauung ist heute keine erst zu begründende theoretische Herausforderung mehr. Natürlich wehren sich Sozialisten und Marxisten gegen diese sie beleidigende Zumutung, wobei sie wissen sollten, dass Vergleichen kein Gleichsetzen bedeutet. Zwei Vorgehen bieten sich immer an: das argumentative Gewicht auf die Ähnlichkeit zu legen und die Differenz als marginal zu sehen – das wäre für die Linken ein politischer Skandal – oder die Differenz als zentral zu sehen und die Ähnlichkeit als peripher – das wäre für sie erträglich. Vergleiche zwischen Bolschewismus (unter mehreren Namen) und Nationalsozialismus wurden und werden immer wieder gemacht – von den Totalitarismustheorien über Schulstoffe bis zum Stammtisch. Anspruchsvoller ist die Analyse zweier totalitärer Weltanschauungen. Hier gilt es, Inhalt, Funktion und Struktur zu identifizieren und von anderen theoretischen Gebilden (etwa der Ideologie) zu isolieren, den Weg von der theoretischen Ausarbeitung zur öffentlichen Wirkung darzustellen („Die Idee wird zur materiellen Gewalt ...“), die Frage zu beantworten, welchen Einfluss eine Weltanschauung auf das Handeln in einer Diktatur hat. Kann das meist unfreiheitliche, menschenrechtsverachtende politische Handeln in beiden Diktaturen aus den Weltanschauungen erklärt oder können diese dafür verantwortlich gemacht werden?
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Wenchao Li, Hartmut Rudolph (Hg.): „Leibniz“ in der Zeit des Nationalsozialismus
3 Seiten | Autor: Christoph Sebastian Widdau
1946 hielt der Philosoph und Pädagoge Theodor Litt aus Anlass des 300. Geburtstages von Gottfried Wilhelm Leibniz einen Vortrag über den Universalgelehrten und seine Bedeutung für die „deutsche Gegenwart“, in dem er Folgendes formulierte: „Es ist das erste Mal seit der Vollendung des deutschen Absturzes, daß der Blick sich von dem Jammer der Gegenwart abgezogen und zu einer der großen Gestalten unserer Vergangenheit hingelenkt findet, die in die dunkle Nacht der gemeinsamen Not einen Lichtstrahl hineinsenden könnten. Es ist das erste Mal, daß wir wieder mit Stolz auf einen, der ganz zu uns gehört, hinweisen können“. Wer ganz zu wem gehört, wer sich wem zugehörig macht oder wer zugehörig gemacht werden soll – diese Fragen sind im Zusammenhang mit deutschen Intellektuellen zwischen 1933 und 1945 und der Herrschaftspraxis der nationalsozialistischen Eliten vielfach diskutiert worden. Exemplarisch kann für diese Diskussion der Name Martin Heidegger stehen. Leibniz, in den Jahrzehnten nach 1648 als „Reichspatriot, Staatsphilosoph und Politiker“ agierend, war im nationalsozialistischen Deutschland weder vergessen, noch wurden seine Überlegungen ausgeblendet, wenngleich der Philosoph Erwin Metzke 1943 vermutete, dass kaum „eines großen Deutschen Bild […] so blaß im allgemeinen Bewußtsein geblieben“ sei „wie das von Leibniz“. Welches auch immer das allgemeine Bewusstsein war und wie die Blässe zu bestimmen ist: Leibniz’ Schriften und ihre Auslegungen wurden rezipiert, seine Ideen nicht selten ideologisch vereint.
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Michael Th. Greven: Systemopposition.
2 Seiten | Autor: Karsten Fischer
Wird die Jahreszahl „1968“ genannt, denkt man an Revolutionsromantik, utopische Ideale, „freie Liebe“ und einen Generationenkonflikt, dessen Heftigkeit sich auch aus der Unvermitteltheit ergab, mit der die neuen Denk- und Lebensstile über die westlichen Wohlstandsgesellschaften, allen voran Frankreich, Deutschland und die USA hereinbrachen. Doch dieses im kollektiven Gedächtnis verwurzelte Geschichtsbild wird von Michael Th. Greven als Mythos der Erinnerungskultur entlarvt.
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Mit groben Pinselstrichen über den Emotional Turn
10 Seiten | Autor: Helena Flam
Der amerikanische Historiker Peter Stearns sagte bei einer Tagung in Bielefeld 2006, dass hinter den immensen Summen, die in die Erforschung der Emotionen in der Neurologie, Neuropsychologie, Psychologie usw. fließen, größtenteils die US-Armee stehe – und hinter dieser die Regierung und folgerichtig auch der Steuerzahler. Dieser wisse möglicherweise gar nicht, dass er sich so sehr für jene Orte im Gehirn interessiert, an denen angeblich Emotionen lokalisierbar sind. Aber gerade für Kriegsführungszwecke handelt es sich vermutlich um ein unschätzbares (wenn auch unsicheres und kontroverses) Wissen. Ich habe nun nicht überprüft, ob Stearns mit seiner Vermutung im Detail Recht hat. Es scheint aber in der Tat so zu sein, dass gerade in den genannten Wissenschaftsbranchen, die in den vergangenen Jahren zudem enorm expandiert sind, mit größtmöglichem Eifer nach Emotionen gejagt wird. Dabei entstehen beträchtliche Kontroversen und die verschiedenen Denkschulen verweigern sich gegenseitige Anerkennung. Was außerdem evident ist: Wenn die Neurowissenschaften und die Psychologie Emotionen eine große Bedeutung beimessen, wird es offenbar für andere Fächer leichter, dasselbe zu tun.
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Gekommen, um zu bleiben: Emotionen in der Philosophie
16 Seiten | Autor: Jan Slaby
Abgesänge sind schnell geschrieben. Inzwischen hält der Trend zur interdisziplinären Emotionsforschung seit mehr als 20 Jahren an, und längst haben sich zahlreiche neuerliche Turns geltend gemacht und um Ressourcen und Aufmerksamkeit beworben – sei es der material turn, der spatial turn, der acoustic turn oder jüngst der design turn, von den ebenfalls bereits Patina ansetzenden iconic und performative turns gar nicht zu reden. Wie es scheint, lässt sich heute kaum noch jemand von den vermeintlich so wichtigen und so lange unverstandenen Einflüssen der Emotionalität auf so ziemlich alle menschlichen Vermögen und Vollzüge beeindrucken – been there, done that. Wenn dann auch noch Großinitiativen wie das Berliner Exzellenzcluster „Languages of Emotion“ ausgerechnet in dem Moment, als ihre Forschungsarbeit erste Ergebnisse zu liefern beginnt, die Förderung verlieren, scheint die Botschaft klar: der Forschungstrend „Emotion“ geht seinem Ende entgegen. Freilich haben es gerade die Kulturwissenschaften in den letzten Jahren zur Meisterschaft im Ausrufen neuer Wenden gebracht, so dass heute kaum noch als ernst zu nehmender Vertreter dieses Fachs gilt, wer nicht einen veritablen turn to XY verkündet und wortreich propagiert hat. Ob diese Hatz nach dem neuesten Schrei der Forschung auch sachlich gebotene Themensetzungen vornimmt, erscheint dabei zunehmend zweifelhaft.
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Wohin mit den Gefühlen?
10 Seiten | Autor: Benno Gammerl, Bettina Hitzer
Wie die meisten Paradigmenwechsel verknüpft sich auch der Emotional Turn mit radikalen Ansprüchen. Ob als Kampfansage an eine durchrationalisierte Moderne, als Klage über kapitalistisch, heterosexistisch und rassistisch bedingte Gefühlsverkrüppelungen oder als Provokation innerhalb objektivitätsversessener und logozentrischer Wissenschaftskulturen – Gesten der herausfordernden Überschreitung begleiten die Gefühlswende seit ihren Anfängen.
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Bürger als zärtliche Väter?
10 Seiten | Autor: Nina Verheyen
Vaterliebe ist heutzutage ein Politikum. Mit der Kampagne „Mehr Spielraum für Väter“ versuchte das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend erstmals vor über zehn Jahren, Männer gezielt zum Erziehungsurlaub zu animieren. Bundesweit geklebte Plakate präsentierten einen gepflegten Herrn mit Geheimratsecken in verschiedenen, aber stets vom Nachwuchs bestimmten Lebenslagen. Als ein an den Rändern zum Ausschneiden markiertes Bastelbild wurde der besagte Mann zum Beispiel in die Fotografie eines im Sandkasten hockenden Kindes montiert. In eckigen Klammern raunte das Ministerium den Betrachtern suggestiv die Frage zu: „Wäre es nicht schön, wirklich dabei zu sein?“ Das Ministerium versuchte also, über den Appell an väterliche Gefühle die Bereitschaft zur Kinderbetreuung zu erhöhen. Auch die Medien beleuchteten die Liebe der Väter in dieser Perspektive. So publizierte das Magazin GEO zeitgleich eine große Reportage über eine „neue, bunte Väter- Generation“, die sich nicht länger in die Rolle des „emotionalen Außenseiters der Familie“ füge. Vielmehr begleite sie den Nachwuchs „intensiv, gefühlvoll und aufmerksam“ wie nie zuvor.
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Vorbildliche Gefühle
14 Seiten | Autor: Rüdiger Zill
Am 30. Juni 1960 kam Baudouin I., König der Belgier, nach Leopoldville, heute Kinshasa, um die Kolonie Belgisch-Kongo in die Unabhängigkeit zu entlassen. Der Akt wurde gekrönt von einer Parade, bei der Baudouin im offenen Cabriolet durch die Stadt fuhr. Plötzlich näherte sich ein junger Mann, entriss ihm seinen Säbel und rannte mit seiner Beute davon. Der Fotograf Robert Lebeck stand zufällig am Wegesrand und schoss geistesgegenwärtig ein paar Aufnahmen von dieser Szene. Was so als Schnappschuss entstand, ist durch die Situation in hohem Maße zum Sinnbild geworden. Was dem kongolesischen Volk ursprünglich gegeben werden sollte, die Unabhängigkeit, hat es sich selbst genommen, zumindest in dem symbolischen Akt eines seiner Mitglieder. Doch wenn man die Aufnahmen mit einer anderen Szene vergleicht, zeigt sich in ihnen noch ein Aspekt, der nicht unmittelbar politisch zu deuten ist, aber eine historische Tiefendimension aufscheinen lässt.
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Prekäre Gefühle
12 Seiten | Autor: Veronika Zink
Im Zuge der viel zitierten „Entzauberung der Welt“ und der damit verbundenen Rationalisierung, Funktionalisierung und Zivilisierung eines vermeintlich modernen Blicks auf die Wirklichkeit, wurde den Gefühlen, folgt man soziologischen Zeitdiagnosen, ein sekundärer und nicht zu berücksichtigender Status zugesprochen. Dem Emotionalen wurde hierbei keine Bedeutung beigemessen. Es galt höchstens als eine dysfunktionale und zu kontrollierende Instanz. Die Blickrichtung scheint sich jedoch verändert zu haben, was uns nicht zuletzt durch den heraufbeschworenen Paradigmenwechsel eines Emotional Turn vor Augen geführt wird. Ganz allgemein, sehen wir uns mit einer sich verändernden kulturellen Bedeutung des Emotionalen und den damit verbundenen Formen der Emotionalisierung konfrontiert. Das Gefühl ist omnipräsent: Kaum eine mediale Werbebotschaft, die ohne den Verweis auf das Label ‚Emotion‘ auskommt, kaum ein Großereignis, das nicht mit emotionalen Codes beladen würde. Auch abseits der medialen Pfade appellieren wir beständig an die Gefühle und das emotionale Verstehen unseres Gegenübers und versuchen ebenso, unser kerninneres Empfinden möglichst effektreich nach außen zu tragen.
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