Berliner Debatte Initial
Öffentlicher Raum und fragmentierte Erinnerung
10 Seiten | Autor: Srdjan Radovic
Politische und gesellschaftliche Macht, so die amerikanische Anthropologin Katherine Verdery, werden gleichermaßen durch die Kontrolle über Geschichte und Raum ausgeübt. Ideologisch codierter Raum, mit seiner kommunikativen Kraft und seinem diskursiven Potential, wirkt mit an der Konstruktion und Wahrnehmung sozialer Realität, er transformiert Geschichte zu einem Teil der „natürlichen Ordnung der Dinge“ und verdeckt so deren Bedingtheit und Künstlichkeit. Aus stadtanthropologischer und kulturgeographischer Perspektive wird diese mitunter als politisch bezeichnete Sphäre des Nationalstaats (ebenso wie große historische Narrative) an und in verschiedenen Orten für die Bürger greifbar. Dabei scheint jedoch die Macht des Nationalstaats über die Erinnerungskultur gegenwärtig nicht mehr so unhinterfragt und uneingeschränkt zu gelten, wie dies noch Henri Lefebvre vermutete. In Serbien und Kroatien sowie in anderen postsozialistischen Staaten zeigt sich dies an den vielfältigen Umbenennungen, die den öffentlichen Raum mit neuen Deutungen versehen.
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Nicht-Ort oder Utopie: Günter Grass’ Danzig
8 Seiten | Autor: Joanna Jabłkowska
In Günter Grass‘ Roman „Unkenrufe“ wird die Idee eines Versöhnungsfriedhofs entwickelt, auf dem nach ihrem Hinscheiden die ehemaligen Danziger, die die Stadt nach 1945 verlassen mussten, ihre letzte Ruhestätte finden könnten. Während die Helden nach einem entsprechenden Ort suchen, scheint der Erzähler eine mentale Karte Danzigs zu rekonstruieren. Unter anderem finden wir im Text eine Beschreibung der „Vereinigten Friedhöfe“, die vom heutigen Zustand ihres Geländes ausgeht und ihre frühere Lage rekonstruiert: „Das später Park Akademicki genannte Gelände gab zwischen der Poliklinik und der Technischen Hochschule, der parallel verlaufenden Großen Allee und dem zum Krematorium führenden Michaelisweg Raum für den […] Friedhof der katholischen Kirchengemeinden […], für den sich anschließenden […] evangelischen Sankt Marienfriedhof, auf dessen zum Michaelisweg liegendem Teil das Szpital Studencki gebaut wurde, für den […] evangelischen Sankt Katharinenfriedhof, auf dessen östlichem Teil einige neue Gebäude der vormals Technischen Hochschule, dann Politechnika Gdańska Platz genommen hatten […]. Auch der Urnenfriedhof wurde bis Ende der sechziger Jahre eingeebnet und später als öffentliche Anlage unter dem Namen „Park XXV-lecia PRL“ […] zur allgemeinen Nutzung freigegeben“.
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Versuchter Neustart
14 Seiten | Autor: Cornelia Heintze
In den europäischen Ländern, die im Zuge der Finanzkrise in eine schwere Staatsfinanzierungskrise gerieten, kommt ein in den Kernelementen identisches Krisenbewältigungsmuster zum Einsatz. Statt die Kosten der Krise sozial ausgewogen zu verteilen, werden obere Einkommensschichten geschont und die unteren wie mittleren Bevölkerungsteile umso stärker belastet. Statt die tiefer liegenden Krisenursachen anzugehen, wird die neoliberale Politik der Umwandlung öffentlicher Gestaltungsräume in Räume für privatkapitalistische Aneignungen fortgesetzt. Privatisierungen und die radikale Kürzung öffentlicher Leistungen dienen diesem Zweck. Die kritische Beschäftigung mit „Wachstum, Wohlstand und Lebensqualität“ andererseits bleibt in Anläufen stecken. So auch in Deutschland. Die beim Deutschen Bundestag diesbezüglich eingerichtete Enquete- Kommission hat sich der Aufgabenstellung, Wachstum auf gesellschaftliche Bedarfe zu beziehen, auf vor allem ökologische und soziale Herausforderungen, um auf dieser Basis neue Wohlstandsindikatoren zu entwickeln, mehrheitlich verweigert. Auf dem Höhepunkt der Krise gab es ein kurzes Zeitfenster für neue Ideen und eine andere Politik. Längst hat es sich zugunsten eines Weiter-so geschlossen. Auch die Energiewende ist abgehakt. Sie sollte für die Welt ein Beispiel setzen, wird nun aber abgelöst vom Export neoliberaler Strukturreformen. Der Begriff „Agenda-10“ steht dafür als Chiffre. Inhalt ist der Abbau von Arbeitnehmerrechten, die Schwächung staatlicher Gestaltungskraft und die „Vermarktlichung“ gesellschaftsnaher Dienste. Dem neoklassischen Denkrahmen entsprechend setzen die Krisenländer auf die Ankurbelung ihrer Wettbewerbsfähigkeit, damit ihres Exports, durch vor allem Reallohnkürzungen. Diese „innere“ Abwertung ersetzt die im gemeinsamen Währungsraum unmöglich gewordene „äußere“ (Währungs-) Abwertung.
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Das „wohlverstandene Eigeninteresse“ der Völker der Europäischen Union
13 Seiten | Autor: Judith Dellheim, Frieder Otto Wolf
Jürgen Habermas, der in deutschsprachigen Medien oftmals für Nachdenklichkeit, neue Einsichten, produktiven Widerspruch und Streit sorgt, hat der Kant‘schen Kategorie des „wohlverstandenen Eigeninteresses“ eine neue Aktualität verschafft: Das gilt gerade für die „Europa-Problematik“1, um die es sich auch in seinem Gespräch mit Francis Fukuyama drehte, das „Die Welt“ abgedruckt hat2. „Wohlverstandenes Eigeninteresse“ in Habermas‘ neuer Verwendung meint allerdings vor allem die Zustimmung der Bevölkerungen zu einer Regierungspolitik im Sinne der „europäischen Einigung“: ihr Leben sei mehrheitlich reicher bzw. interessanter geworden.
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Nation in den historischen Narrativen Nordkoreas
14 Seiten | Autor: Un-suk Han
Nach der Befreiung vom japanischen Kolonialismus bzw. vom deutschen NS-Regime im Jahr 1945 begannen sowohl Nordkorea als auch Ostdeutschland alsbald, ein sozialistisches System nach sowjetischem Vorbild aufzubauen. In der Frühzeit des Aufbaus der Geschichtswissenschaft als akademischer Disziplin mangelte es an professionellen Historikern. Und diejenigen, die an Universitäten und Forschungseinrichtungen angestellt waren, waren ausschließlich bürgerliche Historiker. Doch schon bald wurden Geschichtsunterricht und Geschichtswissenschaft der Doktrin des Marxismus-Leninismus unterworfen, der auf historischem Materialismus und Klassenkampftheorie basierte.
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Begegnung mit dem Westen im russländischen Film: Semiotische „Abwehrstrategien“
10 Seiten | Autor: Maxim Gatskov
Die Theorie der postkommunistischen Transformation beschäftigt sich vorwiegend mit dem institutionellen Übergang vom totalitären zum demokratischen Herrschaftssystem und von der Planwirtschaft zur Marktwirtschaft. Empirische Transformationsforschung wird dementsprechend hauptsächlich im Rahmen der Politik- und Wirtschaftswissenschaft sowie der politischen Soziologie betrieben. Nach zwei Jahrzehnten postkommunistischer Transformation ist jedoch klar, dass es neben politischen Institutionen und wirtschaftlichen Opportunitäten noch andere Faktoren gibt, die vielleicht weniger sicht- und fassbar sind, aber (womöglich gerade deswegen) den Transformationsprozess nicht unerheblich beeinflussen. Wissenschaftlich lassen sich die Mechanismen des Systemwechsels daher nicht ausschließlich auf der institutionellen Makroebene und durch klassische Einstellungsuntersuchungen zu politischen Themen nachvollziehen. Die komplexen Prozesse der Transformation subjektiver Wirklichkeit, also „Fälle, in denen der Mensch ‚umschaltet‘ von einer Welt zur anderen, beziehungsweise eine Welt gegen eine andere austauscht“ müssen miterforscht werden. Im vorliegenden Text geschieht dies anhand einer Analyse populärer russländischer Filme, die reiches subjektives Material bieten – welches wiederum eine gewisse überindividuelle Objektivität gewinnt, indem es Millionen Empfänger erreicht und diskursiv weiterverarbeitet wird.
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Finanzkrise, Eurokrise und Bankenreform in der Diskussion
7 Seiten | Autor: Ulrich Busch
Während die wirtschaftstheoretische Aufarbeitung der „großen Krise“ nur zögerlich vorankommt, gewinnt die finanz- und wirtschaftspolitische Auseinandersetzung über deren Ursachen und Folgen kontinuierlich an Fahrt. Monat für Monat erscheinen Berichte, Bücher, Streitschriften und Artikel zu diesem Thema. Ob im Europäischen Parlament, auf dem Weltwirtschaftsforum oder im Deutschen Bundestag – überall wird über die Krise debattiert und heftig darüber gestritten, wie Europa zu Stabilität und dynamischer Entwicklung zurückfinden kann. Und nicht nur das. Inzwischen wurden auch zahlreiche Gesetzesvorhaben, Regelungen und Beschlüsse zur Krisenbewältigung und Krisenprävention auf den Weg gebracht. Es tut sich also etwas auf diesem Gebiet.
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Jeffrey E. Green: The Eyes of the People
3 Seiten | Autor: Johannes Peisker
In seinem demokratietheoretischen Erstlingswerk kommt Jeffrey Green, derzeit Assistent für Politische Theorie an der University of Pennsylvania, in den Anfangszeilen ohne Umschweife auf das Anliegen des Werks zu sprechen: „Bislang ist Demokratie als Ermächtigung der Stimme des Volkes konzipiert worden. Dieses Buch ist ein Aufruf, die Augen des Volkes als ein Organ zu betrachten, das in angemessenerer Weise als ein Ort der vom Volke ausgehenden Mitwirkungsmöglichkeit fungieren könnte“. Diese Annahme wird von Green – mit Rekurs auf Max Weber, Josef Schumpeter und Carl Schmitt – unter den folgenden Bedingungen der modernen westlichen Massenmediengesellschaft durchgespielt: einmal der seit den 1950er Jahren empirisch festgestellten weitverbreiteten Passivität der Bevölkerung in politischen Fragen sowie weiterhin der generellen Schwierigkeit, den Volkswillen bzw. die öffentliche Meinung als für politische Entscheidungen verbindliche Legitimitätsquelle ontologisch und semantisch zu fassen. Green verfolgt die Ziele, den Begriff „Volk“ als gesellschaftliches Integrationskonzept zu erhalten bzw. wiederherzustellen, und die Theorie plebiszitärer Demokratie nicht nur als notwendige Ergänzung, sondern auch als in vielen Fällen realistischere Legitimationsgrundlage demokratischer Herrschaft zu etablieren (ohne dabei den Wert aktiven politischen Handelns herabsetzen zu wollen).
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Orrin W. Robinson: Grimm Language
3 Seiten | Autor: Tara Beaney, Erdem Osman
Die „Kinder- und Hausmärchen“ der Brüder Grimm zählen zu den bekanntesten und einflussreichsten Werken der deutschen und der Welt-Literatur. Das ist mehr als nur zufällig ein Erfolg der Grimms selbst, die die Geschichten nicht bloß gesammelt, wie früher angenommen wurde, sondern fortlaufend bearbeitet haben: Von 1812 bis 1857 wurden sieben neue und vielfach revidierte Ausgaben veröffentlicht. Dadurch haben sie einen Erzählstil erreicht, der uns heute als charakteristisch für das Märchenhafte überhaupt gilt. Es ist also keine Überraschung, dass in den letzten Jahrzehnten sehr viel zu diesen Märchen geforscht wurde. Fragestellungen dieser Forschung beinhalten psychoanalytische und genderbezogene Annäherungen sowie den Versuch der Grimms, die Märchen als von deutscher Herkunft auszuweisen und gesellschaftliche und moralische Werte zu betonen. So wurde in letzter Zeit kritischer mit der Annahme umgegangen, dass die Märchen eine Art uraltes Volkswissen darbieten.
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Franz Neckenig: Stil-Geschichte der Kunst
4 Seiten | Autor: Friedrich Weltzien
Wenn im renommierten Berliner Verlagshaus Dietrich Reimer ein Band erscheint, der die Darstellung einer kunstwissenschaftlichen Methode verspricht, darf man durchaus hellhörig werden. Hier werden seit jeher kunsttheoretische Arbeiten von hohem Anspruch verlegt. Und immerhin macht die eigenwillige Titelfindung neugierig. Der Bindestrich in der „Stil-Geschichte“ suggeriert eine ironische Distanzierung zur angejahrten aber immer noch ehrwürdigen Tradition kunsthistorischer Methodik aus dem späten 19. Jahrhundert. Und die Charakterisierung als „ganzheitlich“ lässt im esoterischen Beigeschmack der Terminologie eine alternative Lesart von Kunst erwarten. Angemeldet wird eine eigene Methodologie als „Form wissenschaftlichen Arbeitens“. Diese Erwartungen, soviel sei vorweggenommen, werden enttäuscht. Zurück bleibt ein Eindruck von Vermessenheit.
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