Berliner Debatte Initial 3 | 2007

Erinnerungen an Gewalt

112 Seiten

Europa ist nicht arm an Erinnerungskulturen. Die postsozialistische Gesellschaftsentwicklung hat  dieses Phänomen noch verstärkt, denn die Nationalstaatsbildung nach dem Zerfall der Sowjetunion und Jugoslawiens brachte enormen Schwung in die Re-Konstruktion nationaler Erzählungen. Die (Wieder-)Entdeckungen und (Gegen-)Erinnerungen an Gewalt und Vertreibung produzieren dabei neue Trennlinien, Brüche und Verbindungen, schaffen neue Gedenkpraxen und politische Ansprüche. Oft wird erst ausgehandelt, welche Formen der Erinnerung überhaupt in Frage kommen, je nachdem, ob große Bevölkerungsgruppen integriert werden sollen oder ob eine lokale Rekonstruktion mit einem neuen Deutungsmuster im Vordergrund steht.

Der in diesem Heft beginnende Themenschwerpunkt versammelt Aufsätze zu ver- schiedenen Facetten der Vielfalt dieser neuen Erinnerungsformen in postsozialistischen Gesellschaften. Zwei weitere, für die Diskussion unverzichtbare Aufsätze werden in Heft 4 erscheinen. Alle Beiträge sind „Nahaufnahmen“ der ethnologischen Feldforschung, die Einsichten in die Technik, Inszenierung und strategische Umsetzung des Erinnerns vermitteln. Den Autoren geht es primär darum, wie eine traumatische Vergangenheit im Alltag verankert werden kann und wie (nicht was) erinnert bzw. vergessen wird.

Die ethnologische Perspektive ermöglicht es, die mnemotechnischen Praktiken „von unten“ zu erfassen, die Mikropolitiken kollektiver Gedächtnisbildung aufzudecken, wie im Interview mit Wolfgang Kaschuba erörtert. Wie eine schwierige Vergangenheit selektiv zum Ausdruck gebracht und für die politische Zukunft eines Staates eingesetzt wird, thematisiert Tsypylma Darieva, während Stephan Feuchtwang zeigt, wie selektive Erinnerung die vielfach durch den Holocaust gebrochenen jüdischen Familiengeschichten zu einem neuen Kontinuum zusammenbindet.

Inhalt

Ähnliche Inhalte