2013

Wolfgang Uwe Eckart: Medizin in der NS-Diktatur

Ideologie, Praxis, Folgen

3 Seiten | Autor: Regina Casper

Arzt sein heißt Leben retten, Leben erhalten, Leben schützen. Bis heute ist es unerklärlich, warum Ärzte unter den Nationalsozialisten Leben zerstörten, Leben gefährdeten und Leben für unwert erklärten. Nicht alle Ärzte wurden zu Mördern, nur wissen wir, dass um 1934 ein Drittel der Ärzte und 10 Jahre später 45 % der NSDAP angehörten und von diesen wurden fast alle zu parteihörigen Lebensvernichtern. Allerdings dokumentiert Wolfgang Uwe Eckart, dass auch der Partei nicht zugehörige Ärzte, Akademiker eingeschlossen, zunächst an der Sterilisierung von Epileptikern und zu schwachsinnig oder geisteskrank Erklärten und später an der Tötung chronisch kranker und schwacher Menschen teilgenommen haben – aus ideologischen Gründen und/ oder aus opportunistischem Kalkül. Eckart beherrscht sein Sujet, dennoch: “Freiräume des Handelns” waren nicht die Ursache, die gab es immer. Es gab Weisungen, denen die meisten Ärzte bereitwillig gefolgt sind. Die Teilnahme an Sterilisation und Euthanasie war nicht erzwungen und doch: Vor Gericht zur Rechenschaft gestellt, wiesen die Schuldigen jede Verantwortung zurück. Viele der Justiz entflohenen Ärzte praktizierten in Deutschland nach dem Krieg trotz ihrer Verbrechen unbehelligt ihren Beruf.

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Erschienen in
Berliner Debatte 1 | 2013
Bildung und Biologie
162 Seiten

Zwei unangepasste Intellektuelle: Karl Radek und Chaim Zhitlowsky

4 Seiten | Autor: Wladislaw Hedeler

Ob sich Karl Radek (31.10.1885–19.5.1939) und Chaim Zhitlowsky (19.4.1865–6.5.1943) je begegnet sind, ist nicht überliefert. Bis 1908 wäre es denkbar, denn die Lebenswege beider kreuzten einander. Es ist kaum anzunehmen, dass sich Radek vor seinem Zerwürfnis mit Rosa Luxemburg über Zhitlowsky unterhalten hat, gegen den Lenin seinerzeit erbittert zu Felde gezogen war. Rosa Luxemburg bezeichnete ihn im Briefwechsel als „gründlichen Kenner der Philosophie“, auch wenn seine Beweisführung daneben geht.1 Doch weder Kay Schweigmann- Greve noch Wolf-Dietrich Gutjahr, die Verfasser der vorliegenden Bücher über Zhitlowsky und Radek, verfolgen diese Spur weiter.

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Erschienen in
Berliner Debatte 1 | 2013
Bildung und Biologie
162 Seiten

Gunther Teubner: Verfassungsfragmente

Gesellschaftlicher Konstitutionalismus in der Globalisierung

4 Seiten | Autor: Oliver Römer

Probleme der Rechts- und Verfassungstheorie auf gesellschaftstheoretische Fragestellungen zurückzubeziehen, ist weder in den Rechtsnoch in den Sozialwissenschaften eine Selbstverständlichkeit. Eine wichtige Ausnahme bilden die Arbeiten des Rechtswissenschaftlers Gunther Teubner, der mit Rechtstheorie den Sinn der Rechtswissenschaften für die gegenwärtige soziologische Diskussion zu schärfen versucht. Dabei ist das in den Sozialwissenschaften eher randständig behandelte Problem der Konstitutionalisierung von rechtlichen Regulativen jenseits des Nationalstaates für Teubner zuletzt immer weiter in den Vordergrund getreten. In einer Reihe von Aufsätzen und in dem gemeinsam mit Andreas Fischer-Lescano verfassten Buch „Regime-Kollisionen“1 wird versucht, der gesellschaftlichen Funktionsweise des Rechts unter Globalisierungsbedingungen auf den Grund zu gehen. Im Zentrum dieser Überlegungen steht das Phänomen einer „Selbstkonstitutionalisierung globaler Ordnung ohne Staat“ (87), das in Teubners neuestem Werk „Verfassungsfragmente“ eine Zuspitzung erfährt: Gegenstand ist nun die Frage nach der Herausbildung von verfassungsmäßigen Integralen in einer nicht mehr nationalstaatlich formierten Weltgesellschaft.

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Erschienen in
Berliner Debatte 1 | 2013
Bildung und Biologie
162 Seiten

Symbolisches Kapital und soziale Klassen

Mit einer Einleitung und Anmerkungen von Loïc Wacquant

10 Seiten | Autor: Pierre Bourdieu

Jedes wissenschaftliche Klassifikationsvorhaben muss der Tatsache Rechnung tragen, dass soziale Akteure objektiv durch zwei unterschiedliche Arten von Eigenschaften charakterisiert erscheinen: einerseits materielle Eigenschaften, die sich, angefangen beim Körper, wie jedes andere Objekt der physischen Welt zählen und messen lassen, andererseits symbolische Eigenschaften, die ihnen in der Beziehung zu anderen, zur Wahrnehmung und Bewertung dieser Eigenschaften fähigen Subjekten zukommen und nach ihrer spezifischen Logik erfasst werden müssen. Dies bedeutet, dass es zwei unterschiedliche Arten gibt, die soziale Wirklichkeit zu interpretieren: einerseits Ansätze, die sich mit einem objektivistischen Gebrauch der Statistiken wappnen, um Verteilungen (im statistischen wie auch im ökonomischen Sinne) zu ermit teln, quantifizierte, anhand von „objektiven Indikatoren“ (d.h. materiellen Eigenschaften) erfasste Ausdrücke für die Verteilung eines bestimmten Quantums sozialer Energie auf eine große Zahl konkurrierender Individuen, andererseits Ansätze, die sich bemühen, Bedeutungen zu entziffern und die kognitiven Operationen aufzudecken, mit denen die Akteure sie produzieren und sie entziffern. Der erste Ansatz will eine objektive, der gewöhnlichen Erfahrung gänzlich unzugängliche „Realität“ festhalten und „Gesetze“ zutage fördern, das heißt, signifikante Beziehungen – signifikant im Sinne von nicht zufällig – zwischen Verteilungen, der zweite Ansatz hat nicht die „Realität“ selbst zum Objekt, sondern die Vorstellungen, die sich die Akteure von ihr machen und die in einer nach Art der idealistischen Philosophen als „Wille und Vorstellung“ gedachten sozialen Welt die ganze „Realität“ darstellen. Ansätze der ersten Art, die die Existenz einer „von Bewusstsein und Willen des Individuums unabhängigen“ sozialen „Realität“ anerkennen, gehen bei ihren wissenschaftlichen Konstruktionen logischerweise von einem Bruch mit den gewöhnlichen Vorstellungen von der sozialen Welt (Durkheims „Vorbegriffen“) aus. Ansätze der zweiten Art, die die soziale Realität auf die Vorstellung reduzieren, die sich die Akteure von ihr machen, befassen sich logischerweise mit dem Primärwissen von der sozialen Welt1: Als bloßer „account of accounts“, wie Garfinkel das nennt, bloße Konstruktion zweiten Grades, kann diese „Wissenschaft“, deren Objekt eine andere „Wissenschaft“ ist, nämlich die, welche die sozialen Akteure in ihrer Praxis anwenden, nichts weiter tun, als die Erfassungen einer sozialen Welt zu erfassen, die in letzter Instanz nichts weiter wäre als das Produkt von mentalen, also sprachlichen, Strukturen.

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Berliner Debatte 2 | 2013
Postdiktatorische Räume
158 Seiten

Symbolische Macht und Gruppenbildung

Zu Pierre Bourdieus Neuformulierung der Klassenfrage

18 Seiten | Autor: Loïc Wacquant

Pierre Bourdieus Neubetrachtung der Klassenfrage veranschaulicht die Hauptelemente seiner Soziologie in globo, sodass ein genaues Lesen seiner Schlüsseltexte zu diesem Thema einen direkten Weg in den Kern seines wissenschaftlichen Projekts eröffnet. Es verdeutlicht die wesentlichen konzeptionellen Wandlungen, die der französische Soziologe in dem Bestreben anstieß, eine der widerspenstigsten Problematiken der Sozialgeschichte und Sozialtheorie neu zu fassen und zu lösen. Im Zuge dessen schmiedete Bourdieu Werkzeuge, die ihm helfen sollten, die allgemeine Politik von Gruppenbildungsprozessen zu erhellen: jene sozio-symbolische Alchemie, aufgrund derer ein abstraktes mentales Konstrukt in den Köpfen Einzelner sich in eine konkrete soziale Realität verwandelt, die ihrerseits eine über und außerhalb der Individuen stehende, existenzielle Wahrhaftigkeit und historische Wirkmacht entfaltet. Im Folgenden stelle ich sechs miteinander verwobene Charakteristika von Bourdieus Neufassung des Klassenbegriffs heraus, die die klassischen Perspektiven erweitern, miteinander vermischen und in einem eigenständigen Theoriegebäude verschmelzen.

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Erschienen in
Berliner Debatte 2 | 2013
Postdiktatorische Räume
158 Seiten

Zwischen Zentrum und Peripherie

Zeitgeschichte in spanischen Geschichtsmuseen

16 Seiten | Autor: Jurek Sehrt, Tobias Reckling

Im Sommer 2012 debattierte das Madrider Abgeordnetenhaus einen Antrag der Partei Izquierda Unida (IU, Vereinigte Linke) über die Schaffung eines Museo de la Memoría Democrática (Museum der demokratischen Erinnerung) in der spanischen Hauptstadt. Die Realisierung dieses Museums, welches u.a. den Opfern des Franquismus gewidmet sein sollte, wurde mit den Gegenstimmen der rechtskonservativen Partido Popular (PP, Volkspartei) mit der Begründung abgelehnt, dass “nach vorne geschaut werden [müsse] anstatt die Spanier zu spalten, alte Wunden aufzureißen, die Geschichte zu verzerren, und damit den neuen Generationen Hass und Ressentiments einzuimpfen“.

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Berliner Debatte 2 | 2013
Postdiktatorische Räume
158 Seiten

Urbane Erinnerungspolitik und Dekolonisierung

Das Denkmal der Übersee-Kombattanten in Lissabon

11 Seiten | Autor: Robert Stock

Die Beschaffenheit der gegenwärtigen europäischen Erinnerungskulturen zeichnet sich durch einen hohen Grad an Heterogenität aus. Mit Claus Leggewie kann man davon ausgehen, dass „Europas kollektives Gedächtnis nach 1989 [...] ebenso vielfältig wie seine Nationen und Kulturen [...] und genauso – im doppelten Sinne – geteilt wie seine Staatenund Gesellschaftswelt“ ist. Demzufolge lässt sich die europäische Erinnerungslandschaft als eine Formation von sieben Kreisen denken: Dabei bildet die Vernichtung der europäischen Juden durch das nationalsozialistische Terrorregime den zentralen negativen Gründungsmythos des heutigen Europas, der im Internationalen Holocaust-Gedenktag einen Kristallisationspunkt findet. Auch die Verbrechen der nationalsozialistischen und kommunistischen Diktaturen stellen wichtige Marker der europäischen Erinnerung dar, ebenso wie die Erfahrung des Zweiten Weltkriegs und die damit verbundene Vertreibung ganzer Bevölkerungsteile. Zum heterogenen Feld erinnerungspolitischer Formationen sind weiterhin der Genozid an den Armeniern während des Ersten Weltkriegs, Sklaverei und Kolonialismus sowie Emigration und die europäische Integration zu zählen. Es versteht sich, dass diese historischen Ereignisse und Prozesse je eigene Nachwirkungen produzierten, die nicht nur an bestimmte Nationen gebunden sind. Vielmehr werden diese Vergangenheiten unter bestimmten Gesichtspunkten in der Gegenwart rekonstruiert und sich von bestimmten sozialen Gruppen angeeignet, die sie für ihre jeweiligen Interessen heranziehen.

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Berliner Debatte 2 | 2013
Postdiktatorische Räume
158 Seiten

Öffentlicher Raum und fragmentierte Erinnerung

Politik und Gegenpolitik der Straßennamenänderung im ehemaligen Jugoslawien

10 Seiten | Autor: Srdjan Radovic

Politische und gesellschaftliche Macht, so die amerikanische Anthropologin Katherine Verdery, werden gleichermaßen durch die Kontrolle über Geschichte und Raum ausgeübt. Ideologisch codierter Raum, mit seiner kommunikativen Kraft und seinem diskursiven Potential, wirkt mit an der Konstruktion und Wahrnehmung sozialer Realität, er transformiert Geschichte zu einem Teil der „natürlichen Ordnung der Dinge“ und verdeckt so deren Bedingtheit und Künstlichkeit. Aus stadtanthropologischer und kulturgeographischer Perspektive wird diese mitunter als politisch bezeichnete Sphäre des Nationalstaats (ebenso wie große historische Narrative) an und in verschiedenen Orten für die Bürger greifbar. Dabei scheint jedoch die Macht des Nationalstaats über die Erinnerungskultur gegenwärtig nicht mehr so unhinterfragt und uneingeschränkt zu gelten, wie dies noch Henri Lefebvre vermutete. In Serbien und Kroatien sowie in anderen postsozialistischen Staaten zeigt sich dies an den vielfältigen Umbenennungen, die den öffentlichen Raum mit neuen Deutungen versehen.

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Erschienen in
Berliner Debatte 2 | 2013
Postdiktatorische Räume
158 Seiten

Nicht-Ort oder Utopie: Günter Grass’ Danzig

8 Seiten | Autor: Joanna Jabłkowska

In Günter Grass‘ Roman „Unkenrufe“ wird die Idee eines Versöhnungsfriedhofs entwickelt, auf dem nach ihrem Hinscheiden die ehemaligen Danziger, die die Stadt nach 1945 verlassen mussten, ihre letzte Ruhestätte finden könnten. Während die Helden nach einem entsprechenden Ort suchen, scheint der Erzähler eine mentale Karte Danzigs zu rekonstruieren. Unter anderem finden wir im Text eine Beschreibung der „Vereinigten Friedhöfe“, die vom heutigen Zustand ihres Geländes ausgeht und ihre frühere Lage rekonstruiert: „Das später Park Akademicki genannte Gelände gab zwischen der Poliklinik und der Technischen Hochschule, der parallel verlaufenden Großen Allee und dem zum Krematorium führenden Michaelisweg Raum für den […] Friedhof der katholischen Kirchengemeinden […], für den sich anschließenden […] evangelischen Sankt Marienfriedhof, auf dessen zum Michaelisweg liegendem Teil das Szpital Studencki gebaut wurde, für den […] evangelischen Sankt Katharinenfriedhof, auf dessen östlichem Teil einige neue Gebäude der vormals Technischen Hochschule, dann Politechnika Gdańska Platz genommen hatten […]. Auch der Urnenfriedhof wurde bis Ende der sechziger Jahre eingeebnet und später als öffentliche Anlage unter dem Namen „Park XXV-lecia PRL“ […] zur allgemeinen Nutzung freigegeben“.

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Berliner Debatte 2 | 2013
Postdiktatorische Räume
158 Seiten

Versuchter Neustart

Islands Alternative zur Mainstream-Krisenbewältigung

14 Seiten | Autor: Cornelia Heintze

In den europäischen Ländern, die im Zuge der Finanzkrise in eine schwere Staatsfinanzierungskrise gerieten, kommt ein in den Kernelementen identisches Krisenbewältigungsmuster zum Einsatz. Statt die Kosten der Krise sozial ausgewogen zu verteilen, werden obere Einkommensschichten geschont und die unteren wie mittleren Bevölkerungsteile umso stärker belastet. Statt die tiefer liegenden Krisenursachen anzugehen, wird die neoliberale Politik der Umwandlung öffentlicher Gestaltungsräume in Räume für privatkapitalistische Aneignungen fortgesetzt. Privatisierungen und die radikale Kürzung öffentlicher Leistungen dienen diesem Zweck. Die kritische Beschäftigung mit „Wachstum, Wohlstand und Lebensqualität“ andererseits bleibt in Anläufen stecken. So auch in Deutschland. Die beim Deutschen Bundestag diesbezüglich eingerichtete Enquete- Kommission hat sich der Aufgabenstellung, Wachstum auf gesellschaftliche Bedarfe zu beziehen, auf vor allem ökologische und soziale Herausforderungen, um auf dieser Basis neue Wohlstandsindikatoren zu entwickeln, mehrheitlich verweigert. Auf dem Höhepunkt der Krise gab es ein kurzes Zeitfenster für neue Ideen und eine andere Politik. Längst hat es sich zugunsten eines Weiter-so geschlossen. Auch die Energiewende ist abgehakt. Sie sollte für die Welt ein Beispiel setzen, wird nun aber abgelöst vom Export neoliberaler Strukturreformen. Der Begriff „Agenda-10“ steht dafür als Chiffre. Inhalt ist der Abbau von Arbeitnehmerrechten, die Schwächung staatlicher Gestaltungskraft und die „Vermarktlichung“ gesellschaftsnaher Dienste. Dem neoklassischen Denkrahmen entsprechend setzen die Krisenländer auf die Ankurbelung ihrer Wettbewerbsfähigkeit, damit ihres Exports, durch vor allem Reallohnkürzungen. Diese „innere“ Abwertung ersetzt die im gemeinsamen Währungsraum unmöglich gewordene „äußere“ (Währungs-) Abwertung.

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Erschienen in
Berliner Debatte 2 | 2013
Postdiktatorische Räume
158 Seiten