2012
Das Wittenberge-Projekt
6 Seiten | Autor: Heinz Bude, Michael Thomas, Rainer Land, Andreas Willisch
Nach der kulturellen Wende der 80er und 90er Jahre, die den Geisteswissenschaften ihre stillen normativen Voraussetzungen im Sinne einer unbedachten Präferenz für den europäisch-amerikanischen Weg des „weißen fleischessenden Mannes“ bewusst gemacht haben, finden sich diese heute in einer gewissen Isolation von den harten sozialen Problemen unserer Gegenwartsgesellschaft wieder. Man ist diskursanalytisch höchst reflexiv, aber hat den Kontakt zu den Lebensproblemen der Leute verloren, die plötzlich „Nein“ zu Europa sagen, sich zu ursprungsmythischen Volksbegriffen flüchten oder sich überaus wechselhaft in ihren politischen Optionen verhalten. Mit großer Überraschtheit entdeckt man die „Unterschichten“ oder „Verworfenes Leben“ (Zygmunt Bauman) in einem gesellschaftlichen Umbruchsprozess, der scheinbar fortwährend die Richtung verändert und Kontinuität nur in seiner anhaltenden Dynamik aufweist. Nachdem sich die Geisteswissenschaften über die Bedeutung der „Kultur“ aufgeklärt haben, ist die „Gesellschaft“ wieder zu einem unbekannten Gegenstand geworden. Die Menschen haben Angst vor plötzlichem Statusverlust und sehen sich mehr als Opfer unbeherrschbarer anonymer Kräfte denn als Akteure in einem nachvollziehbaren sozialen Wandel. Vor allem aber fühlen sich bestimmte Teile der Bevölkerung abgehängt vom Lebenszuschnitt der „Mehrheitsklasse“ (Ralf Dahrendorf) und aufs Überleben verwiesen.
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Transnationale Märkte zwischen Überlebensökonomie und neuem Kosmopolitismus
10 Seiten | Autor: Regina Bittner
„Ich musste meine Stelle aufgeben, weil mir kein Gehalt mehr gezahlt wurde. Jeder weiß, dass das heute sehr oft und in vielen Unternehmen geschieht. Seit sechs Jahren betreibe ich hier auf dem Markt mein eigenes Geschäft. Und es ist schwer, ein wenig Profit damit zu machen, weil wir eine Menge Steuern zahlen müssen. Das Einkommen hier reicht nur zum Überleben. Aber da ich Selbstunternehmerin bin, habe ich doch ein paar Vorteile: Ich kann freimachen, wann ich möchte, oder eben an bestimmten Tagen nicht arbeiten. Die meisten Waren kommen aus Moskau, Ismailowski und Chernizovskaja sind die billigsten Märkte, um Waren einzukaufen. Ich fahre mit dem Bus dorthin. Wie oft ich fahre, hängt vom Handel ab, manchmal einmal, manchmal zweimal die Woche oder auch nur einmal im Monat. Ich kann es mir nicht leisten, in die Türkei oder nach Polen zu reisen, was die meisten Leute taten, als sie mit ihrem Pendelhandel (shuttle-trade business) Mitte der 1990er Jahre anfingen, zu einem Zeitpunkt, als die Bedingungen dafür günstig waren. Inzwischen können es sich immer weniger Leute leisten, in die Türkei zu fahren. Die, die Anfang der 1990er Jahre damit begannen, haben heute teure Kioske, einige haben sogar Geschäfte eröffnet. Sie können teure Waren verkaufen, ich verkaufe billige.
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Fragmentierung – Realität der Globalisierung
17 Seiten | Autor: Fred Scholz
Seit Ende der 1980er Jahre finden strukturell tief greifende Veränderungen im Entwicklungs- geschehen sowohl der Länder des Nordens als auch des Südens statt. Sie stehen im Zusammenhang mit einer sich weltweit durchsetzenden Liberalisierung, Privatisierung und Deregulierung, dem neoliberalen Credo der Globalisierung. Eindeutiger noch als bisher wird dabei auf Wachstum gesetzt, was in der Vergangenheit fortdauernd aufsteigende wirtschaftlich begründete Entwicklung von Ländern und deren Gesellschaften als Ganze bedeutete. Für die Länder des Südens erlangte dieses Entwicklungsverständnis in der sowohl modernisierungs- als auch dependenztheoretisch begründeten Strategie der nachholenden Entwicklung praktische Bedeutung. Doch die Erfolge gerade im Süden sind bescheiden gewesen und daran hat sich seit der Globalisierung mit ihrer wachstumsbasierten Ideologie nichts geändert. Im Gegenteil: die bestehenden Gegensätze zwischen Nord und Süd und innerhalb dieser, zwischen Reich und Arm, haben sich überall dramatisch verschärft. Diese noch zu erörternde Tatsache veranlasst dazu, das bisher geltende und durch die Globalisierung neu belebte und bestärkte Entwicklungsverständnis kritisch zu hinterfragen.
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Große Welt – Kleine Welt
13 Seiten | Autor: Jörg Dürrschmidt
Als die „Empire Windrush“ am 22. Juni 1948 die ersten 492 Einwanderer aus Jamaika nach London bringt, beginnt der nachhaltige postkoloniale Wandlungsprozess der englischen Gesellschaft. Der Verlust der Empires ist dabei der Gewinn der urbanen Gesellschaft Englands. Einwanderer aus dem karibischen Teil des Commonwealth haben den Alltag der „global city London“, aber auch anderer Großstädte wie Manchester und Bristol, unübersehbar geprägt. Sie kamen als dringend benötigte Arbeitskräfte vor allem für den unterbesetzten Dienstleistungssektor. So sehr man sie aber als Krankenschwestern und Busfahrer brauchte, so schleppend verlief die Überwindung des kulturellen Ressentiments, das ihnen im Alltag entgegenschlug, trotz britischer Staatsbürgerschaft und trotz Sozialisation durch britische Institutionen.
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Überleben in der Peripherie
6 Seiten | Autor: Mathias Wagner
In der öffentlichen Diskussion um die Erweiterung der Europäischen Union seit 2004 werden üblicherweise die Vorteile eines größeren Europäischen Marktes für Individuum und Gesellschaft gepriesen. In der allgemeinen Euphorie werden damit verbundene Verarmungsprozesse an den neuen EU-Außengrenzen freilich oft unterschlagen. Die Verlierer des gesellschaftlichen Wandlungsprozesses entwickeln in dieser Situation Techniken des Überlebens, um sozialer Exklusion zu entgehen. Vor dem Hintergrund unzureichender Systeme der sozialen Transferleistungen bietet sich der informelle Sektor als Alternative an. So sorgen in Polen, als dem größten und bevölkerungsreichsten ostmitteleuropäischen EU-Mitglied, vor allem der illegale Abbau von Kohle in sogenannten „Armengruben“ und der Zigarettenschmuggel an den nordöstlichen Grenzen für mediale Aufmerksamkeit. Am Beispiel des Schmuggels, der sich an der polnisch-russischen Grenze vollzieht, wird an dieser Stelle der Frage nach den gesellschaftlichen Auswirkungen dieses informellen Kleinhandels nachgegangen.
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Victoria by night mit Herrn XXL
4 Seiten | Autor: Judit Miklos
Die Stadtratssitzung heute hat lange gedauert. Die Frühlingssonne geht gerade unter in Victoria, der kleinen Stadt am Fuße der rumänischen Karpaten. Frau B., die jüngste Stadträtin, und ich treten in den kühlen Abend hinaus. Wir zünden uns gerade eine Zigarette an, als Herr S. mit den letzten Stadtratsmitgliedern aus dem Rathaus herauskommt. Alle wollen nach Hause, nur Herr S. nicht. Mit einem leisen Pfeifen nähert er sich uns und zieht seine Amtskollegin Frau B. an sich: „Schätzchen, Du hast heute wieder mal die gesamte Sitzung dominiert, und wie immer hast Du Dich auch heute durchgesetzt!“. Frau B. nimmt das Kompliment mit einem breiten Lächeln entgegen.
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Noch einmal: Die Verzahnung von workfare und prisonfare
17 Seiten | Autor: Interview mit Loïc Wacquant
Dieser Beitrag erweitert einen früheren Text, der als Antwort auf Fragen von Karen J. Winkler entstand und in gekürzter Fassung unter dem Titel „When Workfare Meets Prisonfare: A Q&A with Loïc Wacquant” in „The Chronicle of Higher Education Review“ (5. 8. 2009) erschien. Das Manuskript kann unter http://chronicle.com/article/When- Workfare-Meets/47034/ abgerufen werden. Wir danken dem Chronicle für die Erlaubnis zur Verwendung der vollständigen Fassung, welche im April 2011 um weitere Fragen von Volker Eick ergänzt wurde. Loïc Wacquant ist Professor für Soziologie an der Universität Kalifornien, Berkeley, und forscht am Centre européen de sociologie et de science politique, Paris. Zu seinen Arbeiten zählen Beiträge über urbane Relegation, ethnorassische Domination, über den Strafrechtsstaat, zu Verkörperlichung und sozialer Theorie sowie zu den Politiken der Vernunft. Seine Bücher wurden in mehrere Sprachen übersetzt, darunter Titel wie: „Urban Outcasts: A Comparative Sociology of Advanced Marginality“ (2008), „Bestrafen der Armen: Zur neolieberalen Regierung der sozialen Unsicherheit“ (2009) und „Deadly Symbiosis: Race and the Rise of Neoliberal Penalty“ (erscheint bei Polity Press).
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Stalins Plan zur Vernichtung eines Volkes
9 Seiten | Autor: Nikita Petrov
75 Jahre trennen uns von jener Zeitspanne, die als Epoche des Großen Terrors in die Geschichte einging. Über diese Jahre sind etliche Bücher geschrieben und zahlreiche Filme produziert worden, die in diesem oder jenem Maße den Schrecken der politischen Säuberungen und Massenrepressalien widerspiegeln. Das Interesse der Historiker an jenen Ereignissen erklärt sich nicht nur aus dem Maßstab der Repressalien, die Millionen von Menschen erfassten, sondern auch aus ihrer Gerichtetheit. Im Unterschied zu zuvor praktizierten Verhaftungswellen und Verbannungen, die gegen präzise bestimmte Bevölkerungsgruppen gerichtet waren, erfassten die Repressalien der Jahre 1937-1938 sämtliche Schichten der sowjetischen Gesellschaft, ihre Strukturen sowie die Einrichtungen des Partei- und Staatsapparates. Gerade die Tatsache, dass neben einfachen Bürgern führende Funktionäre der Regierungspartei den Säuberungen und Repressalien zum Opfer fielen, prägte die Grundlinien der Mythenbildung bei der Bestimmung der Ursachen und des Charakters der Repressalien jener Zeit. Bis auf den heutigen Tag halten sich „Theorien“ wie die, dass Stalin 1937 angeblich nur die „korrumpierte“ Parteispitze verfolgte, oder die, dass es nicht Stalin, sondern die „Parteiapparatschiks“ vor Ort waren, die gegen Stalins Willen die Massenrepressalien initiierten. Die heute überlieferten Dokumente des Politbüros des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei der Sowjetunion (Bolschewiki) widerlegen alle diese pseudohistorischen Konstruktionen.
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Die „Deutsche Operation des NKWD“ in Moskau und im Moskauer Gebiet 1936-1941
7 Seiten | Autor: Alexander Vatlin
In dem Forschungsprojekt, über das dieser Artikel Auskunft gibt, wurde der Verlauf der „Deutschen Operation des NKWD“ in Moskau und im Moskauer Gebiet in den Jahren 1936-1941 untersucht. Dabei wurden die administrativen Grenzen von September 1937 zugrunde gelegt. Für dieses Gebiet ist eine ebenso ausreichende wie überschaubare Quellenbasis überliefert. Im Staatsarchiv der Russischen Föderation (GARF) werden ca. 1.000 Untersuchungsakten aufbewahrt, die die Moskauer Gebietsverwaltung des NKWD sowie deren Vorgänger und Nachfolger bei der Bekämpfung politischer Verbrechen angelegt hatten.
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Archivforschungen zum „Großen Terror“
9 Seiten | Autor: Wladislaw Hedeler
Dieser Bericht versteht sich als Ergänzung zu den von Nikita Petrov und Alexander Vatlin für dieses Heft verfassten Beiträgen, die den Großen Terror als Ganzes, „Stalins Plan zur Vernichtung eines Volkes“ und seine gegen die Deutschen in der UdSSR gerichteten „Operationen“ skizzieren. Mit dieser Auswahl werden weitere russische und deutsche Publikationen zum Thema vorgestellt und kommentiert, darunter auch solche Veröffentlichungen, auf die sich die Moskauer Kollegen in ihren Artikeln sowohl direkt als auch indirekt beziehen.
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