Emanzipation und Isolationsbedrohung
16 Seiten | Autor: Janosch Schobin
Dass in modernen Gesellschaften immer mehr Menschen vereinsamen, ist eine beliebte Verfallsdiagnose. Sie wird oft mit dem Verlust traditionaler Bindungen begründet. Viele Faktoren sprechen jedoch gegen die panische Vorstellung von einer „Einsamkeitsepidemie“, zumindest in westeuropäischen Gesellschaften. Besonders die zunehmende Gleichstellung der Frauen dürfte der Zunahme von Vereinsamungserfahrungen entgegengewirkt haben. Im Rahmen des Emanzipationsprozesses steigern moderne Gesellschaften strukturell die Kontrolle der Einzelnen über die Fortführung, aber auch über die Gestaltung von Freundschaften, Partnerschaften und Familienbeziehungen. Der Artikel argumentiert anhand international vergleichender Daten des ISSP 2017, dass diese Zunahme relationaler Autonomie den Anteil der kündbaren Beziehungen am persönlichen Netzwerk der Menschen erhöht. Dadurch kommt es zu einer Dynamisierung der Nahwelt, deren widersprüchliches Ergebnis ist, dass negative Einsamkeitserfahrungen seltener werden, die Bedrohung durch soziale Isolation dagegen zunimmt: Nicht die Einsamkeit selbst verbreitet sich daher in den westeuropäischen Gegenwartsgesellschaften, sondern die Angst vor Vereinsamung.
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