Die Grenzen der Materialisierung diskursiver Performativität an psychisch lebbarer Sozialität

Judith Butlers unbekannte Wiederentdeckung der Unumgänglichkeit Philosophischer Anthropologie

International und im Hinblick auf die theoretischen Fundierungsfragen der Gender Studies hat Judith Butler mit ihren Arbeiten während der letzten Dekade die entscheidenden Anstöße gegeben. Sie hat auf irritierend provokante, schließlich aber doch originelle Weise für die Geschlechterfrage drei Gegenwartsphilosophien miteinander verbunden: Michel Foucaults Konzeption von Machtbeziehungen, die durch ihre diskursive Umgestaltung gegenüber der alten Souveränität (der auf die staatliche Gewalt zentrierten Gesetzesherrschaft) Normen für den Subjektstatus produzieren, mit Jacques Derridas Auffassung von Iterabilität (einer unumgänglichen Wiederholbarkeit, die das Wiederholte ändert) und John Austins sprachpragmatischer Formulierung der Frage nach Performativität, d. h. nach der Ausübung der ersten Person Singular im Indikativ Präsens Aktiv gemäß ritualisierten Rollenkonventionen. Indessen versteht man Butlers Pointe nicht ohne die Berücksichtigung ihres Zuganges zur Spezifik der Psyche. Was Butler die Materialisierung, Sedimentierung (Ablagerung) oder Habitualisierung diskursiver Performativität (insbesondere der Geschlechterperformativität) nennt, soll das Problem neu aufrollen, das üblicher Weise unter dem Titel der Reflexion, Verinnerlichung oder Interiorisation verhandelt wird. Die Psyche ermögliche gerade wegen ihrer Sozialität überhaupt („within the social“) zugleich eine Grenze für die Lebbarkeit bestimmter Sozialitäten („the domain of livable sociality“).6 An diese Grenzen könne gegebenenfalls eine öffentliche Politisierung der geschlechtsbezogenen und anderen Performativa anknüpfen, um sich - diesseits von Fatalismus und dem alten Emanzipationskampf des Subjekts - auf die Subversion der etablierten Handlungsmacht einzulassen. Dadurch könne nicht diejenige Entfremdung (näher: Verwerfung) überwunden werden, die in der Produktion von Subjekten durch Machtbeziehungen schon immer enthalten sei. Wohl aber könnten so die Kriterien bestimmter Legitimität für bestimmte Arten der Unterwerfung, die die Handlungsmacht von Subjekten ermöglicht, geschichtlichpolitisch geändert werden. Es entstehe also in der Grenze dessen, was der psychischen Natur performativ lebbar bleibt bzw. unlebbar wird (ihre leidenschaftliche Anhänglichkeit missbraucht, sie leidend, krank macht), ein kritisches Potential, das Foucault, Derrida und Austin fehlt. Dieses Potential könne nun aber auf dem Wege der öffentlichen Subversion hegemonialer Dichotomien (wie des heterosexuellen Dualismus) erklärlich werden lassen, wieso Macht (in ihren Sedimentierungen, Materialisierungen oder Habitualisierungen) nicht einfach (ohne Veränderung) reproduziert werde (gegen Foucault), wieso Wiederholbarkeit Alterität (Andersartigkeit) einschließt (die in Derridas Iterabilität schon immer vorausgesetzt oder von Levinas übernommen wird) und wieso sich die Performativa (insbesondere Illokutionen) sozialer Rollen ändern können (gegen Austins Zirkel der Rollenkonvention).

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Erschienen in
Berliner Debatte 1 | 2001
Arbeit und Anmut des Boxens
173 Seiten

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