Der 8. Mai 1945 und heute
4 Seiten | Autor: Alexander Rahr
Vera stellt sich auf die Zehenspitzen und reckt die Arme hoch. Der Stoff schleift am Boden, so groß ist das Tuch, das die junge Frau zwischen ihren Händen hält, roter Inlettstoff mit aufgenähten weißen Leinenstreifen. Die Nacht hindurch hat sie an der alten Singer gesessen und die Streifen aufgesteppt. Mit einem Kopfnicken deutet sie dem Offizier und dem Soldaten an, je einen Zipfel des Tuches zu fassen. Als die beiden das Tuch entfalten, spannt es sich quer durch den Raum. Vera prüft im schwachen Licht der Glühbirne das aufgenähte blaue Viereck mit den weißen Sternen. Die 48 Sterne sind exakt angeordnet, die Steppnähte sitzen. Vera will die Rückseite sehen. Der Offizier und der Soldat zwängen sich aneinander vorbei und halten nun die andere Seite hoch. Auch hier ist alles perfekt: rot, weiß, blau, Stars and Stripes, die US-amerikanische Flagge. Sie wissen nicht, dass heute, in den frühen Morgenstunden des 7. Mai, in Reims, dem Hauptquartier der westlichen alliierten Streitkräfte, ein Protokoll zur bedingungslosen Kapitulation der Wehrmacht unterzeichnet wurde, und auch nicht, dass in Berlin, am Sitz des sowjetischen Oberkommandos, die Unterzeichnung der Kapitulationserklärung durch die Oberbefehlshaber der Teilstreitkräfte der Wehrmacht stattfinden wird.
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