Symbolisches Kapital und soziale Klassen

Mit einer Einleitung und Anmerkungen von Loïc Wacquant

10 Seiten | Autor: Pierre Bourdieu

Jedes wissenschaftliche Klassifikationsvorhaben muss der Tatsache Rechnung tragen, dass soziale Akteure objektiv durch zwei unterschiedliche Arten von Eigenschaften charakterisiert erscheinen: einerseits materielle Eigenschaften, die sich, angefangen beim Körper, wie jedes andere Objekt der physischen Welt zählen und messen lassen, andererseits symbolische Eigenschaften, die ihnen in der Beziehung zu anderen, zur Wahrnehmung und Bewertung dieser Eigenschaften fähigen Subjekten zukommen und nach ihrer spezifischen Logik erfasst werden müssen. Dies bedeutet, dass es zwei unterschiedliche Arten gibt, die soziale Wirklichkeit zu interpretieren: einerseits Ansätze, die sich mit einem objektivistischen Gebrauch der Statistiken wappnen, um Verteilungen (im statistischen wie auch im ökonomischen Sinne) zu ermit teln, quantifizierte, anhand von „objektiven Indikatoren“ (d.h. materiellen Eigenschaften) erfasste Ausdrücke für die Verteilung eines bestimmten Quantums sozialer Energie auf eine große Zahl konkurrierender Individuen, andererseits Ansätze, die sich bemühen, Bedeutungen zu entziffern und die kognitiven Operationen aufzudecken, mit denen die Akteure sie produzieren und sie entziffern. Der erste Ansatz will eine objektive, der gewöhnlichen Erfahrung gänzlich unzugängliche „Realität“ festhalten und „Gesetze“ zutage fördern, das heißt, signifikante Beziehungen – signifikant im Sinne von nicht zufällig – zwischen Verteilungen, der zweite Ansatz hat nicht die „Realität“ selbst zum Objekt, sondern die Vorstellungen, die sich die Akteure von ihr machen und die in einer nach Art der idealistischen Philosophen als „Wille und Vorstellung“ gedachten sozialen Welt die ganze „Realität“ darstellen. Ansätze der ersten Art, die die Existenz einer „von Bewusstsein und Willen des Individuums unabhängigen“ sozialen „Realität“ anerkennen, gehen bei ihren wissenschaftlichen Konstruktionen logischerweise von einem Bruch mit den gewöhnlichen Vorstellungen von der sozialen Welt (Durkheims „Vorbegriffen“) aus. Ansätze der zweiten Art, die die soziale Realität auf die Vorstellung reduzieren, die sich die Akteure von ihr machen, befassen sich logischerweise mit dem Primärwissen von der sozialen Welt1: Als bloßer „account of accounts“, wie Garfinkel das nennt, bloße Konstruktion zweiten Grades, kann diese „Wissenschaft“, deren Objekt eine andere „Wissenschaft“ ist, nämlich die, welche die sozialen Akteure in ihrer Praxis anwenden, nichts weiter tun, als die Erfassungen einer sozialen Welt zu erfassen, die in letzter Instanz nichts weiter wäre als das Produkt von mentalen, also sprachlichen, Strukturen.

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Erschienen in
Berliner Debatte 2 | 2013
Postdiktatorische Räume
158 Seiten

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