Die Zähmung des Minotaurus

Zur Aktualität von Bertrand de Jouvenels Reflexionen über die Staatsmacht

7 Seiten | Autor: Nicolas Stockhammer

„Eine Gesellschaft von Schafen muss mit der Zeit eine Regierung von Wölfen hervorbringen“, so lautet Bertrand de Jouvenels wohl berühmtester Aphorismus. Die Wolfsmetapher des Politischen steht in seiner Anthropologie für die Zurechnung animalischer Wildheit an die Führerpersönlichkeit. Sie fungiert als Attribut für den ruchlosen, zugleich rohen Machtmenschen Machiavellischen Zuschnitts, der aus einem Kollektiv entscheidungsschwacher Individuen durch Selektion emporwächst und die Herrschaft über demokratieverdrossene Zeitgenossen übernimmt. Cesare Borgia (1475–1507) war mit Sicherheit solch ein unbarmherziger Wolf, der sich skrupellos die Schwäche seiner Konkurrenten zunutze machte. Jouvenel, dem mit Machiavelli neben einer überaus scharfe Beobachtungsgabe auch eine Karriere als Gesandter gemeinsam ist, hat indes eine differenziertere Auffassung des Wölfischen. Die Wölfe sind die Antidemokraten, die Lämmer, die mitheulen. Bloß kleine Rädchen am Werk der Diktatur, welche als Claqueure und Duckmäuser durch ihre Tatenlosigkeit helfen, den antiliberalen Ungeist zu befördern. Der politische Mechanismus, der sich hinter dem Emporkommen der Wölfe verbirgt, ist für Jouvenel ein durch demokratische Négligence verursachtes Anwachsen des Staatsapparates zu einer unermesslichen Dimension. Erst wenn das Staatsschiff fertig, der Boden fruchtbar ist, wird sich ein Tyrann vom Schlage eines catilinischen Tatmenschen finden, um das Ruder in die Hand zu nehmen und die letzten Überreste von Demokratie zu vernichten.

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Erschienen in
Berliner Debatte 1 | 2008
Antisemitismus
192 Seiten

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