Strafjustiz – Politische Justiz - Weltanschauungskritik

(Auszüge)

6 Seiten | Autor: Werner Becker

Erst nach dem Zustandekommen der Einheit merkten die Westdeutschen und die Ostdeutschen, wie verschieden, ja entgegengesetzt sie in Grundmustern ihres Verhaltens und Denkens sind. Dies spüren besonders diejenigen, die längere Zeit als Westdeutsche im Osten und als Ostdeutsche im Westen zu tun haben. Da die Einheit nicht, wie der Ausdruck beschönigend nahelegt, symmetrisch als das Aufeinanderzugehen zweier im Prinzip Gleicher vor sich geht, sondern extrem asymmetrisch als die Anpassung der einen Seite an die politischen und gesellschaftlichen Lebensbedingungen der anderen Seite, wird die eigene Andersheit von den Ostdeutschen auf eine sie selber permanent erniedrigende Art wahrgenommen... Es zeigt sich eine Fremdheit der beiden deutschen Charaktere, die in der Zukunft die gegenseitige Wahrnehmung bestimmen wird. Sie wird die zweite und sehr viel längere Phase des Umgangs miteinander prägen. Wir werden lernen müssen, damit umzugehen. Der erste Schritt wird sein, die Fremdheitserfahrungen offen zum Ausdruck zu bringen, denn eine Unterdrückung der Gegensätze, wie sie in der Gegenwart aus einer Mischung von mitleidiger Überlegenheit auf der einen und wehleidiger Ängstlichkeit auf der anderen Seite geübt wird, bringt uns nur weiter auseinander. Die wirkliche Einheit der Nation wird erst durch einen Prozeß schwieriger Auseinandersetzungen zu erringen sein. Was bisher unter dem Stichwort "Einheit" stattgefunden hat, speist sich aus Sentimentalitäten bei den Älteren und oberflächlichen Berührungen bei den Jüngeren.

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Erschienen in
Berliner Debatte 2 | 1993
"Schuld" im Räderwerk der Institutionen
113 Seiten

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