Eine kurze Genealogie und Anatomie des Habitusbegriffs

7 Seiten | Autor: Loïc Wacquant

Die philosophischen Ursprünge des Habitusbegriffs zu ergründen und dessen erstmalige Verwendung durch Bourdieu zu betrachten, der damit die historische Bruchlinie des algerischen Befreiungskrieges wie die Nachkrieges-Modernisierung des ländlichen Frankreichs zu beschreiben suchte, kann dabei behilflich sein, vier weithin geteilte Missverständnisse bezüglich des Begriffs aufzuklären. (1) Der Habitus ist niemals eine Replikation einer einzigen sozialen Struktur, sondern vielmehr ein dynamisches, multiskaliertes und vielschichtiges Set von Schemata, dass einer permanenten Revision in der Praxis unterworfen ist. (2) Der Habitus ist nicht notwendigerweise kohärent und einheitlich, sondern weist vielmehr variierende Grade von Verflechtungen und Spannungen auf. (3) Weil der Habitus nicht immer deckungsgleich mit dem ihn umgebenden Kosmos ist, in dem er sich entwickelt, eignet er sich gleichermaßen dafür, sozialen Wandel und Krisen zu erfassen wie Prozesse der Kohäsion und der Perpetuierung. (4) Schließlich ist der Habitus nicht als ein selbstgenügsamer Mechanismus der Generierungen von Handlungen zu verstehen: Die Untersuchung von Dispositionen muss stets in einer engen Verbindung mit einer parallelen Kartierung des Systems sozialer Positionen vorgehen, die die jeweiligen Fähigkeiten und Neigungen der Akteure entweder anregen, unterdrücken oder überschreiben. Grundlegend ist, dass der Habitusbegriff Bourdieus nicht als ein abstraktes Konzept zu verstehen ist, das auf einer theoretischen Ebene verbleibt, sondern als Skizze einer Forschungsperspektive, die die Genese des Denkens in das Zentrum sozialer Analysen stellt.

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Erschienen in
Berliner Debatte 4 | 2016
Big Data als Theorieersatz
146 Seiten

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